Treffende Worte zur aktuellen Lage

Rede zum Grünkohlessen

am 21. Februar 2020 im Central Gasthof

– Anlässlich der Morde in Hanau vom 19.2.2020 –

Von  Udo Fröhlich, Bürgermeister a.D.

„Liebe Gäste, liebe Genossinnen und Genossen,

Ich habe Magnus (Wittern, Vorsitzender) gebeten, das Wort ergreifen zu dürfen, um aus aktuellem Anlass ein paar Sätze des Gedenkens, aber auch des Nachdenkens an Euch zu richten. Und wie ich vernehmen konnte. trifft sich das mit einer gerade geäußerten Anregung von Franz (Thönnes, MdB).

Vor zwei Tagen wurden im hessischen Hanau zehn Menschen ermordet. Der Täter war wohl ein recht verwirrter und irregeführter Kopf, voller Ängste und Hassgefühle. Dazu offensichtlich fehlgeleitet von rechten Parolen, wie wir sie aus der Geschichte des Faschismus kennen.

Kann man 48 Stunden nach solch einer grauenvollen Tat scheinbar zur Tagesordnung übergehen und je nach Region und Tradition im Rheinland Karneval feiern oder hier bei uns im Norden gemütlich zum Grünkohlessen zusammenkommen?

Ich meine: Ja und Nein.

Zur Tagesordnung übergehen? Ich meine: Nein. Gleich ob es die Opfer der NSU, der ermordete Kasseler CDU-Regierungspräsident oder auch die Opfer von vorgestern aus Hanau sind, sie dürfen nicht vergessen werden. Es darf deshalb nicht bei Ritualen des Gedenkens und auch nicht bei Ritualen des Protests bleiben.

Vergessen dürfen wir aber auch nicht, dass an vielen Orten der Welt – ob mit militärischen oder sonstigen staatlichen Mitteln – gefoltert und gemordet wird. Auch die tausenden bis zehntausenden Kinder zählen dazu, die täglich durch einen wirtschaftlich herbeigeführten Hunger zu Tode kommen.

Wir müssen uns also vielmehr (mit Bertolt Brecht) fragen, weshalb „der Schoß noch immer fruchtbar ist, aus dem das kroch“. Diese Frage haben wir von der AG 60plus vor wenigen Wochen bei der Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Faschismus schon einmal aufgeworfen. Wie aktuell diese Aufforderung zur Diskussion sein würde, konnten wir Mitte Januar nicht ahnen.

Gestern haben wir uns in der Arbeitsgemeinschaft 60plus den Film „Der marktgerechte Mensch“ angesehen. Unsere Gesellschaft – so schildert und belegt der Film – schlittert, nur spärlich verschleiert, hin zu immer mehr Egoismus und Ellenbogen-Mentalität. Die Menschen werden in unserer neoliberal organisierten, einzig auf maximalen Profit orientierten Wirtschaft zunehmend zu Tagelöhnern, werden unter dem Schönsprech „Individualisierung“ zunehmend entsolidarisiert und vereinzelt.

Diese Hoffnung der Nachkriegszeit, der Nach-Faschistischen-Ära, auf eine menschengerechte Wirtschaft, festgehalten z.B. in der Bayerischen Landesverfassung, wonach „alles Wirtschaften dem Gemeinwohl verpflichtet ist“ erscheint uns heute aus einer anderen Welt. Wie treffend.

Alles Gemeinschaftliche, alles Solidarische steht unter dem Verdacht nicht nützlich und nicht effektiv zu sein. Dabei kommen fundamentale menschliche Bedürfnisse nach Sozialität, Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft, unter die Räder.

Es bleibt schlicht weder Zeit noch Kraft für gemeinschaftliche Aktivitäten, z.B. Vereinsengagement. Die steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen, der immer öfter ausbrechende Hass auf jedwede scheinbar privilegierte Personengruppe, das alles weist möglicherweise auf gemeinsame Ursachen.

Dabei sind die AfD- und Hassparolen nur die Symptome, nicht aber die tieferliegenden Ursachen. Über diese Ursachen aber müssen wir dringend diskutieren. Und wir brauchen Lösungen und politisches Handeln zur Ursachenbekämpfung statt folgenloser moralischer Appelle.

Und für dieses politische Handeln braucht es angstfreie, mutige Menschen, die offen über notwendige Änderungen diskutieren und sich mit Kraft und Freude dafür einsetzen. Deshalb sage ich ein klares Ja zum gemütlichen Grünkohlessen mit politischen Gesprächen, auch und gerade nach solchen Tiefschlägen, die auch uns und unserer Mitgefühl verletzten.

Lasst mich abschließend unseren ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau aus einer Rede zitieren, die dieser drei Tage nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center am 14. September 2001 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gehalten hat:

„Wer den Terrorismus wirklich besiegen will, der muss durch politisches Handeln dafür sorgen, dass den Propheten der Gewalt der Boden entzogen wird.

Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit lassen Menschen verzweifeln. Die Missachtung religiöser Gefühle und kultureller Traditionen nimmt Menschen Hoffnung und Würde.

Das verführt manche zu Gewalt und Terror. Das sät den Hass schon in die Herzen von Kindern.

Alle Menschen haben das Recht auf Anerkennung und auf Würde.

Wer in seinem Leben Anerkennung erfährt und wer sein Leben liebt, der wird es nicht wegwerfen wollen. Wer in Würde und Zuversicht lebt, aus dem wird kaum ein Selbstmordattentäter werden.

Entschlossenes Handeln ist das Gebot der Stunde. Weil wir das wissen und zeigen, weil wir daran keinen Zweifel lassen, darum sagen wir auch: Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung. Die Frucht der Gerechtigkeit wird der Friede sein.“

In diesem Sinne lasst uns kurz der aktuellen Opfer jeglicher Gewalt, sei sie mit Waffen oder durch mörderische Wirtschaftsstrukturen ausgeübt, gedenken. Und lasst uns danach in gemeinsamer Runde in vielen Gesprächen Gedanken austauschen, uns motivieren für weitere politische Anstrengung, derer es zweifelsfrei bedarf, damit wir im Sinne der Worte von Johannes Rau einer gerechteren Welt, aber auch einer gerechteren Gesellschaft hier bei uns näherkommen.

Wonach sich die Menschen sehnen sind nicht Appelle, es ist konkrete soziale und gerechte Politik. Dafür wollen wir uns einsetzen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen guten Abend!